Weil so oft von „wehrhafter Demokratie“ schwadroniert wird

Auszug aus dem Artikel „Die Fallstricke der wehrhaften Demokratie“ vom 29.03.2024
 
Hans Kelsen, vielleicht der bedeutendste Verfassungstheoretiker des vergangenen Jahrhunderts, gilt als Kronzeuge gegen die wehrhafte Demokratie. In seiner frühen Schrift vom „Wesen und Wert der Demokratie“ (1920) plädiert Kelsen für einen radikalen weltanschaulichen Relativismus, der den leichtfertigen Protagonisten wertegetränkter Diskurse den Atem stocken lässt. Kelsen schreibt:
 
„Darum ist der Relativismus die Weltanschauung, die der demokratische Gedanke voraussetzt. Demokratie schätzt den Willen jedermanns gleich ein, wie sie auch jeden politischen Glauben, jede politische Meinung, deren Ausdruck ja nur der politische Wille ist, gleichermaßen achtet. Darum gibt sie jeder politischen Überzeugung die gleiche Möglichkeit sich zu äußern und im freien Wettbewerb um die Gemüter der Menschen sich geltend zu machen“.
 
Wenn aber, so muss man dem großen Staats- und Demokratiegelehrten entgegenhalten, eine Demokratie von ihren Feinden angegriffen, ausgehöhlt oder in ihrer Existenz bedroht wird, darf sie sich dann nicht wehren, mit allen ihren legalen Mitteln? Kelsens Antwort (1932) ist klar:
 
„Eine Demokratie, die sich gegen den Willen der Mehrheit zu behaupten, gar mit Gewalt zu behaupten versucht, hat aufgehört Demokratie zu sein … d.h. wer für die Demokratie ist, darf sich nicht in den verhängnisvollen Widerspruch verstricken lassen und zur Diktatur greifen, um die Demokratie zu retten“.
 
Entwaffnet Kelsen damit die Demokratie, spricht er ihr ein Selbstverteidigungsrecht ab?
 
Jein. In den 1950er-Jahren wird er in seiner Abschiedsvorlesung in Berkeley schreiben, dass eine demokratische Regierung gewaltsamen Versuchen ihrer Beseitigung durchaus mit Gewalt entgegentreten könne. Aber eine tolerante Demokratie könne nur in dem Maße tolerant bleiben, „wie sie friedliche Äußerungen anti-demokratischer Anschauungen nicht unterdrückt. Gerade durch solche Toleranz unterscheidet sich Demokratie von Autokratie“.
 
Die rote Linie sei die Gewalt, nicht aber schon Existenz, Programmatik und Äußerungen anti-demokratischer Parteien und einzelner Politiker. Schon gar nicht wäre die von nachrichtendienstlichen Exekutiven wie dem skandalumwitterten Verfassungsschutz geäußerte Vermutung des „gesicherten Rechtsextremismus“ oder problematischer noch der „verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates“ einer Partei die legitime Grundlage eines Verbotsverfahrens.
 
Die Logik des wertrelativistischen radikalen Pluralismus schließt Verbotsmaßnahmen gegenüber antidemokratischen Parteien aus. Diese wären nicht nur intolerant, sondern auch undemokratisch.
 
Kelsens Paradoxie-Verdacht lautet: In dem Versuch einer Regierung, die Demokratie gegen ihre intoleranten Feinde zu schützen, nähme diese selbst intolerante Züge an, würde ihren Feinden ähnlich und zerstörte die Grundlagen der Demokratie.
 
Ein Parteienverbot der AfD, wie es heute in Deutschland diskutiert wird, wäre mit Kelsen nicht zu beglaubigen. In der öffentlichen Debatte würde der einflussreichste Verfassungstheoretiker des 20. Jahrhunderts aber vermutlich rasch als ein weltfremder Träumer oder gefährlicher Denker dastehen.

 
Quelle: verfassungsblog.de/die-fallstricke-der-wehrhaften-demokratie
– darauf aufmerksam geworden bin ich durch die Nachdenkseiten.de
 

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