Eigentlich wollte ich ja hier nichts mehr posten, was mit gesellschaftlichen Themen zu tun hat. Zu viel Stress. 😀 Deswegen ist die Anzahl der Posts auf diesem Blog auch mehr als überschaubar. Im Wesentlichen dient er mir seit geraumer Zeit nur noch dazu, meine Bilder zu speichern und als Link-Bibliothek. Aber wie das Leben so spielt, kommt dann doch ein Thema auf, das mich umtreibt. Und wenn mir dann noch ein uralter Artikel in die Hände fällt, der genau dasselbe anprangert(e) wie ich, ist’s vorbei mit meiner Zurückhaltung.
Vorab eine Warnung: Der Beitrag ist lang. Sehr lang. Also entweder vor dem Lesen einen Kaffee, einen Tee, ein Bierchen oder ein Glas Wein holen. Oder vielleicht später nochmal vorbeikommen. 😉
Außerdem noch ein Hinweis zu (fehlenden) Links: Da ich nicht weiß, was Google unter „Limit the number of links on a page to a reasonable number“ versteht, habe ich mich bei der Verlinkung auf die meines Erachtens wichtigsten Links beschränkt. Alle anderen sind durchnummeriert, und die jeweils dazu passende Webadresse findet Ihr in Textform am Ende des Artikels.
Der Artikel, den ich eingangs ansprach, heißt Die Abschaffung der Gesundheit, ist von 2003 und wurde vom Spiegel veröffentlicht. Ja, es gab tatsächlich mal Zeiten, in denen sich die vierte Gewalt ausführlich mit Recherchieren beschäftigte und kritisch berichtete. (Leider wurde der Artikel unformatiert ins Archiv gestellt, weswegen die Leserlichkeit erheblich leidet. Falls Interesse besteht, stelle ich den gerne als von mir überarbeitetes PDF zu Verfügung.)
Der Artikel beginnt mit
Systematisch erfinden Pharma-Firmen und Ärzte neue Krankheiten.
Es folgt eine Einleitung über das Schauspiel „Knock oder der Triumph der Medizin“, das 1923 in Paris Premiere feierte. Inhalt: Wie ein Arzt namens Knock damit begann, den Menschen die Gesundheit auszutreiben.
Anschließend erklärt der Journalist Jörg Blech sehr ausführlich (14 Seiten), wie die Menschen über Jahrzehnte gehinrgewaschen wurden und damit einer gut geölten Pharma-Industrie auf den Leim gingen. Beispiele gefällig?
Wedopress selbst rühmt sich heute, für die „Einführung einer ,neuen‘ Depression“ ein „Trommelfeuer“ in den Medien ausgelöst zu haben. Das Fazit der PR-Agentur lautet: „Das Sisi-Syndrom ist etabliert als besondere Ausprägung der Depression, akzeptiert von Medizinern und Patienten.“
Die Firmen Jenapharm und Dr. Kade/ Besins Pharma versuchen gegenwärtig, eine Krankheit bekannt zu machen, die angeblich Millionen von Männern im besten Alter heimsucht: das Aging Male Syndrome – die Menopause des Mannes.
Auch deutsche Rentner auf Mallorca sind reif für den Inseldoktor: Trotz – oder vielleicht gerade wegen – schönster äußerer Umstände mache ihnen die „Paradies-Depression“ zu schaffen.
„Die allermeisten Daten zur Volksgesundheit werden im Auftrag von privaten Unternehmen und Kliniken erhoben und von Public-Relations-Agenturen an die Medien geliefert. Die Zahlen beruhen bestenfalls auf Stichproben und werden hochgerechnet auf das ganze Volk. Häufig genug aber geht die behauptete Verbreitung einer Krankheit nur zurück auf beliebige Schätzungen.“
Die Aussage des Psychologen Alexander Dröschel, zwischen Stralsund und Konstanz litten rund eine Million Kinder an einer psychiatrischen Krankheit, dem Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS), wurde in ganz Deutschland verbreitet. Eine konkrete Quelle dafür vermochte Dröschel nicht anzugeben: „Es kursieren die unterschiedlichsten Zahlen. Da habe ich eine aus dem mittleren Bereich herausgegriffen.“
Seltene Symptome werden als grassierende Krankheiten dargestellt. Seit der Einführung der Potenzpille Viagra breitet sich die Impotenz erstaunlich aus. Auf einer Internet-Seite des Viagra-Herstellers Pfizer heißt es: „Erektionsstörungen sind eine ernst zu nehmende und häufige Gesundheitsstörung: Ungefähr 50 Prozent der Männer zwischen dem 40. und 70. Lebensjahr sind davon betroffen.“
Risiken werden als Krankheit verkauft. Indem Normwerte für Messgrößen wie Cholesterin und Knochendichte herabgesetzt werden, wächst der Kreis der Kranken.
Und last but not least …
Das Jonglieren mit Risikofaktoren wird in den nächsten Jahren eine ungekannte Beschleunigung erfahren: durch die kürzlich abgeschlossene Entschlüsselung des menschlichen Genoms. Fast im Wochentakt werden inzwischen Gene entdeckt, die Krankheiten im späteren Leben auslösen oder begünstigen; darunter womöglich künftig auch „Krankheitsgene“, die angeblich zu sozial unerwünschtem Verhalten beitragen.